"Oh, wann kommt endlich die Erlösung ?"

Französische Pfarrersfrau schildert ihre Erlebnisse beim Einzug der Deutschen in Dormans im Ersten Weltkrieg. 

Franz Sternemann hat in seinem privaten Archiv  "eine Handvoll Erinnerungen" von Madame Faivre, Frau des Pastors der reformierten Gemeinde in Troissy / Marne, gefunden, die er ins Deutsche übersetzt hat.

Sie schreibt: "Diese Erinnerungen sind für meine Kinder bestimmt; sie sind ohne Selbstgefälligkeit geschrieben. Ich habe nur von den tragischen Tagen erzählt, die ich im September und Oktober 1914 erlebt habe."

 

Samstag, 29. August.

Epernay finde ich voller erregter Erwartung. Man spricht von 800 000 Preußen, die von Belgien heranrücken. Unaufhörlich zogen Flüchtlinge unter meinem Fenster her, Greise, Frauen, Kinder, die schwere Packen trugen. Sonntag, 30. August Ich teile unseren Freunden in Troissy mit, daß ich mich für die Rückkehr nach Epernay entschieden habe. Darüber ist man allgemein bestürzt. . . Meine noch wenig robuste Gesundheit erlaubt mir nicht, mich als Krankenschwester zu melden; Das Rote Kreuz erlaubt mir, verwundete Protestanten zu besuchen.

Dienstag, 1. September.

Ich nehme den 4-Uhr-Zug mit Susanne. In Epernay stelle ich eine außergewöhnliche Panik fest. Es sind 2000 Flüchtlinge, die gerade angekommen sind. Die Stadt ist buchstäblich mit Soldaten vollgestopft . . . Madame Dubrelle kündigt an, daß die Krankenhäuser nach Laval evakuiert werden. Ich denke, daß ich in unserer Nebenstelle in Troissy nützlicher bin und versuche mit Susanne, den 6.40-Uhr-Zug zu nehmen. Eine ungewöhnlich große Menge ist auf dem Bahnhof. Es ist der letzte Zug, der zwischen Epernay und Troissy fährt.

Mittwoch, 2. September.

Den ganzen Tag über geht Artillerie am Wald in Richtung Pâtis in Stellung. Aber all das gleicht ein wenig einem Rückzug! Die Soldaten sterben vor Hunger. Sie wollen uns nicht antworten, wenn wir sie befragen. Einer von ihnen sagt mit halblauter Stimme: "Die Preußen folgen uns."

Donnerstag, 3. September.

Seit 6 Uhr früh hört man die Kanonen donnern. Der Bürgermeister ermahnt die Bevölkerung zur Ruhe. Hinter dem Hügel von Verneuil sieht man den Rauch . . . Dann ging ich, um die Kranken zu versorgen. Davon hatte ich mehrere, da die Doktoren seit einigen Tagen weg sind. Als ich gerade dabei bin, eine tiefe Wunde zu verbinden, tritt seine Schwester Jeanne, ganz bleich, herein. Die Preußen sind da. Man sieht sie in den Weinbergen auf der anderen Seite der Marne. Um 10 Uhr sehe ich Artillerie zum Wald ziehen. Ein Captaine läßt ein Maschinengewehr in unserem Garten aufstellen . . . . Er betrachtet mich mit unendlich traurigem Gesichtsausdruck und antwortet: "Ah! Madame, wenn Sie sich den Emotionen einer Schlacht entziehen wollen, müssen sie mit ihren Kindern fliehen! Der Feind ist da, gegenüber! Er macht es gut!"  Ich habe eine halbe Stunde, um meine beiden lieben Jungen vorzubreiten. Mit dem Fahrrad wollen sie mit Jean Witt aufbrechen. Wir müssen uns trennen! Welches Leid! Eine letzte Umarmung, eine letzte Segnung. Sie gehen weg, das Herz stark, den Kopf gebeugt, sehr blaß. Ich leide furchtbar! Mittags: Es gelingt mir nicht, die Panik im Dorf zu bannen. Die Menschen flehen mich an, mit ihnen zu fliehen. Die Artilleristen vor dem Pfarrhaus haben sich ins Gras gelegt. Ich bin gerade dabei, einen Pflaumenbaum zu schütteln, als eine dicke Granate über meinen Kopf fliegt. Mein Soldat sagt in aller Ruhe: "Madame, ich glaube wohl, daß dies nicht die Zeit ist, Pflaumen zu ernten. Sie sehen die Geschenke, die man uns schickt. Gehen Sie in einen Keller, machen Sie schnell!" Heute morgen sind wir übereingekommen, uns in den tiefen Keller der Guiborats zu flüchten. Er datiert aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Die in den Kreidefelsen getriebene Krypta ist ein Stück Historie.

Freitag, 4. September.

Um 6 Uhr kam eine Frau mit Laterne an unsere Krypta. Sie wendet sich an mich: "Verwundete haben sich von der Brücke in Try bis nach Troissy geschleppt. Einer von ihnen hat auf seinen Knien drei Kilometer gemacht. An einem Schenkel hat er eine schreckliche Verwundung. Das Fleisch hängt in Fetzen wie seine zerrissene Hose, der andere Schenkel ist teils von einer Kugel durchbohrt." Mit beiden Händen muß ich das Fleisch in die klaffende Wunde, nahe dem Knochen, legen. Eine Stunde, die ich nicht vergesse!  Just in dem Moment, als er (Vater Orban) die Nationalstraße mit seinem Soldaten überquert, kommt ein Automobil mit preußischen Offizieren; sie halten an, entwaffnen ihn, erklären ihn als gefangen, geben ihm ein weißes Taschentuch und befehlen ihm, zum deutschen Quartier zurückzugehen. Da sitzen wir schön im Schlamassel! Um 6 Uhr kommt ein Wagen, mit der Rot-Kreuz-Fahne ausgestattet. Ich bin verblüfft. Doktor Kopelmann, Chefarzt des Hospitals in Dormans, ist gekommen. Der Doktor bemerkt mein Rot-Kreuz-Zeichen. Er sagt zu mir: "Sie sind Krankenschwester und Sie sprechen Deutsch? Das Hospital ist von Preußen besetzt, Ihre gefangenen Franzosen werden von deutschen Sanitätern betreut, die sie nicht verstehen. Wir haben keine Krankenschwester. Helfen Sie uns!" Ich werden zu ihnen gehen: Gott wird mir helfen.

Samstag, 5. September.

Ein unbeschreiblicher Anblick bietet sich meinen Augen. Hier war die Schlacht. Das Gelände ist umgewühlt, tote Pferde säumen die Straße. Sie sind gräßlich anzusehen. Und hier zerrissene Uniformröcke, verschmutzte Militärpässe, Essnäpfe, aufgerissene Beutel, Blutflecken . . . und hier begräbt man die letzten Gefallenen. rechts und links sieht man ganz neue Gräber, auf die mal französische Kepis, mal preußische Mützen gelegt sind. . . In der Stadt gibt es kein Brot mehr. Der Doktor bemerkt mich und bringt mich zum Hospital. Man nennt mich hier Oberschwester . . . Hier bin ich nun, gegen meinen Willen an der Spitze dieses Hospitals, das die Preußen geplündert und völlig ausgeraubt haben . . . Einige Franzosen und viele Deutsche sind da. Um 11 Uhr abends bin ich völlig erschöpft und will auf mein Zimmer gehen. Boches versperren den Weg. Schnarchend liegen sie auf dem Boden. Die Schränke der Pension haben sie geplündert und sich mit Blusen, Röcken und Damenhüten ausstaffiert. Sie schlafen in diesem grotesken Kram. Auf der Schwelle unseres Zimmers werden wir von tiefem Grunzen empfangen: zwei Preußen schnarchen in meinem Bett. Ich wage es nicht, sie zu stören . . . Ich will zum Hotel gehen. Nun werde ich von zwei Soldaten eskortiert. Sie sind gesprächig und erzählen, daß sie diesen Krieg nicht gewollt haben; daß es ein Krieg der Offiziere und nicht des Volkes sei . . .

Dienstag, 8. September.

Um Viertel vor sechs morgens klopft es an meiner Tür. "Madame, der Herr General will Sie sprechen!" Sehr schroff sagt er: "Madame, wir geben Ihnen einen Auftrag! Wir bringen Ihnen 200 Verwundete." In aller Eile lasse ich die Säle des Pensionats, die noch nicht belegt sind, räumen. Zu zweit und zu viert kommen deutsche Soldaten mit Matratzen, Bettrahmen, Wäsche, Decken, Bettlaken, Tischtüchern, mit allem, was sie in den benachbarten Häusern stehlen konnten. Ein trauriger Aufmarsch beginnt. Unaufhörlich werden Fahrzeuge ausgeladen. Die armen Verwundeten legt man in Reih und Glied in den Flur . . . Keine Wunde ist gewaschen. Es gibt aber solche, die mit Matsch oder Staub verschmutzt und blutverklebt sind. Die besonders schweren Fälle werden in den Saal gebracht, in dem der Doktor und ich uns überschlagen.

Mittwoch, 9. September.

Um 2 Uhr scheint eine Unruhe beim Personal des Hospitals zu herrschen. Tauben (zu dieser Zeit eine Bezeichnung für Flugzeuge) überfliegen die Stadt. Plötzlich drängen 300 Automobile auf die Hauptstraße. Alle, die es können, ziehen sich hastig an, lassen sich von ihren Kameraden in die Autos tragen. Ein Offizier macht ein Verzeichnis, welche Verwundeten zu schwach sind, um transportiert zu werden. Er gibt uns ihre Liste und sagt in herrischem Ton: "In drei Tagen sind wir wieder da, um sie abzuholen, und wehe euch, wenn nur einer von ihnen fehlt!" Nervös durchmisst ein anderer den Saal mit Riesenschritten. Mit brüchiger Stimme sagt er mir: "Adieu, Madame, wir lassen Ihnen unsere Verwundeten, versorgen Sie sie gut!" Einer meiner Hilfen kommt und sagt mit leiser Stimme: "Die Franzosen sind auf 6 Kilometer heran, sie kommen!" Tränen rollen mir übers Gesicht und auch ihnen, meinen lieben französischen Soldaten. Sie weinen vor Freude! Also sind sie befreit, sind keine Gefangenen der Deutschen mehr. Hinter uns weint man auch. Diesmal sind es die Deutschen. Nun sind sie Gefangene. Sie glauben, daß man sie füsilieren wird, oder wenigstens ihnen die Nase abschneiden, die Zunge und die Ohren. Ich beruhige sie. Ich beschwöre sie, ruhig zu bleiben und nicht die Flucht zu versuchen.

Donnerstag, 10. September.

Der endgültige Abzug war heute nacht. Als ich hinunterkam, war alles leer. Man sah nur umgekippte Stühle, eingeschlagene Möbel, zerbrochene Glassachen. Keinen gesunden Preußen. Wir bemühen uns um den Sterbenden. All das Blut rührt her von einer schrecklichen Wunde an seinem Arm. Die Arterie und der Nerv wurden von einem Säbelhieb durchschlagen. Leise sage ich ihm auf Deutsch: "Es geht besser, nicht wahr?" "Nur Mut, wir werden Sie gut pflegen." Sein Blick verrät, daß er völlig verblüfft ist. Dann lockern sich seine Gesichtszüge und werden sanft. Ein unaussprechlicher Blick trifft mich. Niemals werde ich diese Minuten vergessen. Oh, deutsche Frauen! Wenn eine unter euch ist, die einen französischen Soldaten, Verwundeten oder Gefangenen, bei allem, was zwischen uns ist, getröstet oder ihm Mut zugesprochen hat, seid bedankt! Auf der Straße kommt ein Kommando Jäger zu Pferde. Der Offizier an der Spitze beugt sich über sein Pferd, fragt mit halblauter Stimme: "Die Preußen, sind sie noch da?" Tatsächlich sind die Preußen noch da; auf der Hauptstraße in Dormans. Sie haben die Franzosen von weitem gesehen, und da sie sich nicht stark genug fühlten, sind sie geflohen. Sie hatten nicht die Zeit, die Brücke in die Luft zu jagen, deren Sprengung sie vorbereitet hatten.

Freitag, 11. September.

Unsere 30 Betten sind ständig belegt. Es stellt sich auch die Frage, wie wir die verbliebenen Deutschen los werden. Diese Männer schauen betrübt drein. Derjenige, den wir wieder haben auferstehen lassen, weint auch heiße Tränen. Er will mir die Hände küssen. Ein anderer, der 17 Lanzenstiche und einen Revolverschuß abbekommen hat, lag im Sterben, Fliegen saugten an seinen Wunden. Auch er versichert, daß er uns sein Leben lang dankbar sein wird. Als sie gehen, stellen sie sich im Flur auf und wollen mich sprechen. Einer von ihnen tritt vor, bittet mich, ihnen eine Gunst zu erweisen. Welche Gunst? "Wir möchten Ihnen die Hand reichen, um Ihnen Dank zu sagen!" Die Geste wurde von Neugierigen beobachtet, die darauf warteten, daß die Deutschen abgeführt würden. Die Geste wurde missverstanden und ich erkläre mein Verhalten: "Ich bin nach Dormans gekommen, als mich niemand dazu gezwungen hat. Warum? Einzig und allein, um die verwundeten Franzosen zu pflegen, die Gefangenen der Deutschen. Mein Patriotismus sollte nicht in Zweifel gezogen werden." Man hört mir zu und hat verstanden. Der Fall ist erledigt. Leider Gottes hören wir weiter die Kanonen. Mein Zimmer bebt ständig. Ganze Nächte verbringe ich wach liegend, höre ängstlich, ob sich das Donnern entfernt oder nähert. Reims ist schrecklich beschossen worden. Oh, wann kommt endlich die Erlösung?